Welternährung und Klimakrise

»Wir können sehr viel von indigenen Menschen lernen«

Wie wir essen, zerstört die Welt. Davon ist der Agrarökonom Yon Fernández de Larrinoa überzeugt. Er erforscht die Ernährungssysteme indigener Völker und sieht dort Lösungen für die Klimakrise.

Von Nicola Abé, São Paulo

Nicht nur Regierungschefs und Uno-Beamte treffen bei der Klimakonferenz COP26 in Glasgow aufeinander, sondern auch zahlreiche Vertreter indigener Gemeinden. Ihre Lebensräume werden immer weiter zerstört, vor allem durch die kommerzielle Land- und Viehwirtschaft, die für 90 Prozent der Abholzung verantwortlich ist. Die Lebensmittelindustrie ist zudem für ein Drittel aller Treibhausgasemissionen verantwortlich.

Zerstörerisch und nicht zukunftsfähig sei unser globales Ernährungssystem, sagt der Agrarökonom Yon Fernández de Larrinoa, der bei der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen die Abteilung für indigene Völker leitet. Er ist überzeugt davon, dass wir von ihnen lernen müssen.

SPIEGEL: Herr Fernández de Larrinoa, die Lebensmittelindustrie ist ein Katalysator für den Klimawandel. Wie kann das verändert werden, wenn man bedenkt, dass gleichzeitig eine wachsende Bevölkerung ernährt werden muss?

Fernández de Larrinoa: Das globale Ernährungssystem in seiner heutigen Form ist nicht nachhaltig. Wissenschaftler stimmen darin immer mehr überein; inzwischen steigt das Bewusstsein auch bei Politikern und Regierungen. Alle sind auf der Suche nach Alternativen. Und hier kommen die Ernährungssysteme indigener Menschen ins Spiel: Sie gehören zu den ältesten der Welt. Und sie sind nachhaltig, das heißt, sie funktionieren, ohne die natürlichen Ressourcen zu zerstören und das Ökosystem so zu überfordern, sodass es sich nicht mehr regenerieren kann. Die Aborigines in Australien haben wohl das älteste heute noch existierende Ernährungssystem der Welt. Seit Tausenden von Jahren erzeugen sie Essen, während sie gleichzeitig – wie andere indigene Völker – die Artenvielfalt in ihren Territorien erhalten haben.

SPIEGEL: Was macht die indigenen Ernährungssysteme so besonders?

Fernández de Larrinoa: Wir haben mit ihnen geforscht, von der Arktis bis in den Amazonas und vom Himalaja bis nach Subsahara-Afrika. Die Ergebnisse haben bewiesen, dass ihre Ernährungsweisen nicht nur nachhaltig sind, sondern auch resilienter gegen die Veränderungen durch den Klimawandel. Die Indigenen sehen sich nicht nur als Farmer, das ist das Erste, was sie uns gesagt haben, sondern als Jäger, Fischer und Sammler. Sie haben ein wertvolles, von Generation zu Generation weitergegebenes Ahnenwissen darüber, wie man gleichzeitig die Menschen ernährt und die Natur nicht überfordert. All ihre Ernährungssysteme basieren auf ihrer Kosmogonie und einem spirituellen Glauben daran, dass überall Leben ist, das Respekt verdient. Wenn ein Tier erlegt wird, gibt es meist eine Zeremonie. Man ist sich bewusst, dass man ein Leben genommen hat. Aber auch Bäume und Pflanzen werden als Lebewesen wahrgenommen. Wir sehen also einen völlig anderen Zugang zum Ökosystem, in dem sie leben.

SPIEGEL: Was machen sie denn konkret anders?

Fernández de Larrinoa: Auch sie essen Fisch, Fleisch und Pflanzen. Ihre Systeme erlauben aber oft beispielsweise keine Anhäufung von Nahrung. Das Essen darf nicht in großen Mengen gespeichert werden, sondern wird in der Gruppe verteilt, sodass alle genug haben und gleichzeitig die Kapazitäten der Natur nicht überschritten werden. Indigene verstehen den Unterschied zwischen Lebensmittelerzeugung und Produktion. Letzteres System benötigt menschliches Zutun, etwa Landwirtschaft oder Viehwirtschaft. Während der Lockdownphase in der Pandemie hat diese Produktion gelitten. Die Nahrungsmittelerzeugung hingegen, etwa in Form von Jagd oder Fischerei, blühte während der Pandemie geradezu auf, die Bestände erholten sich. Unser kommerzielles System geht bei der Nahrungsmittelerzeugung genauso vor wie bei der Produktion, deswegen gibt es beispielsweise Überfischung. Es wird massenweise Fisch aus dem Meer geholt, alles, was keinen kommerziellen Wert hat, wird einfach zurückgeworfen. Das würde in einer indigenen Gemeinschaft niemals passieren.

SPIEGEL: Es gibt also keine Lebensmittelabfälle?

Fernández de Larrinoa: Exakt. Das Konzept Müll kennen indigene Gemeinden erst seit Kurzem, seit er von außen kommt in Form von Plastik oder Batterien. Traditionell werden bei ihnen organische Nebenprodukte weiterverwertet, als Verpackungen, Werkzeuge und Kompost. Manche Unternehmen kopieren solche Ansätze inzwischen. Es werden Tüten nicht aus Plastik, sondern aus Kartoffelstärke oder Mais hergestellt.

SPIEGEL: Sie beschreiben Systeme, in denen sich relativ kleine Gruppen selbst ernähren, hauptsächlich mit dem, was sie in der Natur vorfinden. Städter können nicht jagen, sammeln oder fischen gehen. Inwiefern lassen sich die indigenen Ansätze auf die Lebensrealität größerer, urbaner Bevölkerungen übertragen?

Fernández de Larrinoa: Das Leben in Städten verändert die Art, wie wir essen. Tatsächlich besorgt es mich, wie Städter essen – es hat Auswirkungen auf den gesamten Planeten. Natürlich lassen sich indigene Systeme nicht direkt auf urbane Räume übertragen. Dennoch gibt es viel, was wir von ihnen lernen können. Indigene Menschen wissen um die Wichtigkeit von Saisonalität. Sie leben nach dem Kalender der Natur, und das ist gut für ihre Gesundheit und für die Ökosysteme. Städter könnten außerdem lernen, regionale Lebensmittel zu essen und nur so viel einzukaufen, wie sie auch benötigen. Essen könnte geteilt werden, bevor es weggeworfen wird. Die Nahrung indigener Menschen ist außerdem sehr vielfältig. Die Khasi im Himalaja etwa produzieren mehr als 200 verschiedene Lebensmittel durch wechselnden Anbau im Wald. Heutzutage basiert die Mehrheit unserer kommerziellen Lebensmittel auf drei, vier wichtigen Pflanzen, die oft in intensiven, die Umwelt schädigenden Monokulturen angebaut werden. Viel von dem, was früher noch angebaut wurde, ist nach und nach von unserem Speiseplan verschwunden. Ich sehe großes Potenzial darin, diese Verengung rückgängig zu machen.

Quelle: spiegel.de