Rede zum Bundesfeiertag am 1. August 2023

Bernhard Stöckli, Hondrich, Präsident des Grossen Gemeinderats von Spiez.

Als vor 3 Jahrhunderten, am Ende der mittelalterlichen Kaltzeit, der Aletschgletscher wuchs und wuchs und so bedrohlich nahe heranrückte, dass die Bewohnerinnen und Bewohner von Fiesch im Wallis beim Papst vorstellig wurden, man solle gegen das Gletscherwachstum beten. Und der Gletscher schmolz. Sage und schreibe 3.5 Kilometer ist er seither zurückgegangen. Und so sah man sich 2009 gedrungen, wiederum eine Delegation zum Papst zu schicken mit der Bitte, nun ums Gegenteil zu beten, damit der Aletschgletscher nicht komplett verschwinde.

Mit dieser kleinen Geschichte aus dem Walliser Dorf Fiesch, in dem viele Spiezerinnen und Spiezer meiner Generation ihr Schul-Skilager verbracht haben, begrüsse ich Euch ganz herzlich zur Bundesfeier in der Bucht Spiez. Liebe Anwesende, liebe Spiezerinnen und Spiezer, liebe Gäste – es freut mich, dass Ihr so zahlreich den Weg auf Euch genommen habt, in dieser schönen Kulisse der Spiezer Bucht, vor See und Berge, den 1. August zu feiern. Als Präsident des Grossen Gemeinderats habe ich die Freude und Ehre, nun ein paar Worte an Euch zu richten.

Es ist eine Bundesfeier, die auf das 175-jährige Bestehen der Bundesverfassung zu liegen kommt. Während der Rütlischwur 1291 in erster Linie ein Mythos ist, können wir dieses Jubiläum heuer feiern, da im Sonderbundskrieg die Liberalen die Katholisch-Konservativen besiegten und 1848 die Idee des Bundesstaates in die Realität umsetzten. Die siegreichen Liberalen setzten sich aber nicht diktatorisch durch, sondern sie nahmen Rücksicht auf die Anliegen der Unterlegen. Dass die Mehrheit nicht einfach durchregieren kann, dass die Minderheiten in der Schweiz gehört werden, dass ein Grüner hier an der Spiezer Bundesfeier die Festrede halten kann, geht – wenn man so will – ganz direkt auf die Gründerzeit des Bundesstaates zurück.

Und wenn wir schon vom Krieg gesprochen haben: Während wir hier so friedlich beisammen sind, der schönen Musik beiwohnen dürfen und am Buffet des Turnvereins schlemmen können, toben in anderen Ländern Kriege und es herrscht Not und Vergessenheit. Schliessen wir auch diese Realität in unsere Gedanken während den Feierlichkeiten mit ein.

Ja, die Welt ist unbequem geworden. Und doch sind wir ja heute hier, um gemeinsam unser Glück zu feiern. Unser Glück in einem wunderbaren Land geboren worden zu sein und zu leben. In einem Land, das unsere Vorfahren, unsere Mütter und Väter, aber auch unsere Generation Schweizerinnen und Schweizer tagtäglich mitsamt den über 2 Millionen Ausländerinnen und Ausländer, die hier leben und arbeiten, zu dem gemacht haben, was es heute ist: Ein erfolgreicher Staat inmitten Europas, verschont von Krieg und vielem Leid. Daran erinnert mich der 1. August jedes Jahr auf Neue und stimmt mich ungemein dankbar. Am 1. August besinne ich mich darum auf das, was uns eint, was uns gemein ist. Und ich danke den vielen unter uns, die sich jeden Tag für das Gemeinwohl und das Funktionieren der Schweiz einsetzen.

Glaubt man den Meinungsforschern und Politspezialistinnen seien die Schweizerinnen und Schweizer «krisenmüde». Man habe genug vom Ukrainekrieg, vom Klimawandel – Flugscham war einmal, von der Strommangellange, dem Artensterben, der Inflation, und von den Menschen, die übers Mittelmeer zu uns gelangen versuchen. Und es stimmt ja: Sehnen wir uns nicht alle nach Frieden, Freude und Eierkuchen? Oder heute nach Kaffee, Züpfe und Sonne? Da kommen die Krisen natürlich ungelegen.

Und Ihr fragt Euch jetzt vielleicht, warum muss der da vorne ausgerechnet heute über Krisen reden? Er könnte ja auch darüber reden, wie die Frauenfussball Nationalmannschaft in Neuseeland die Achtelfinals erreicht haben, oder wie die Geschäfte an der Oberlandstrasse grosse Anstrengungen auf sich nehmen, und innovative Ideen lancieren, um trotz der Dauerbaustelle für ihre Kundschaft da zu sein. Oder dass zwei Hondricher Brüder in einem Viererruderboot gerade einen neuen Weltrekord bei der Pacific Challenge aufgestellt haben. Einem der härtesten Ruderrennen von Kalifornien über den Pazifik bis nach Hawaii: 4444 Kilometer mit dem Ruderboot in einer Rekordzeit von 29 Tagen und 17 Stunden.

Aber wir Grünen haben ja den Ruf, des Mahners in der Wüste. Allerdings bedeutet ja «Krise» im griechischen Wortstamm etwas anderes, als wir gemeinhin meinen: Crisis heisst nämlich «Entscheidung» oder «entscheidende Wendung». Das heisst also, dass uns in Krisen nicht die Herausforderungen erdrücken dürfen, sondern wir gemeinsam nach der richtigen Entscheidung suchen sollen. Und das gelingt uns am besten, wenn wir einander zuhören. Und nicht schon so tun, als wüssten wir, was der andere sagen will, ohne überhaupt zuzuhören. Es gelingt uns dann, wenn wir alle zusammenstehen und Schulter an Schulter die Herausforderungen annehmen, die uns auf dem Weg in die Zukunft bevorstehen.

Die Bewältigung von Krisen – also eine entscheidende Wendung herbeizuführen – erfordert Mut, Durchhaltewillen und Innovation. Und wir, die in einer Zeit der Multi-Krisen leben, könnten uns zurückbesinnen auf die Gründungszeit des Bundesstaats vor 175 Jahren, als unsere Vorfahren mit der ersten Bundesverfassung die Schweiz zur ersten stabilen Demokratie Europas machten.

Diese entscheidende Wendung in der Krise während des Sonderbundkriegs läutete dann auch ein Pionierzeitalter ein: Beispielsweise wurde in dieser Zeit der Eisenbahnbau vorangetrieben. Private Pioniere in Zusammenarbeit mit staatlichen Akteuren legten damals die Grundsteine für das Eisenbahnnetz, auf das wir alle stolz sind und für das uns die halbe Welt beneidet. Und das auch für uns in Spiez und ganz allgemein im Berner Oberland – nicht nur für den Tourismus – von grosser Bedeutung ist. Der Erfolg dieser Pionierzeit zeigt sich unter anderem auch darin, dass die Schweiz sich nach 1848 von einem Auswanderungsland zu einem Einwanderungsland entwickelte, was ganz generell als positive Entwicklung angesehen werden muss.

Auch in einer anderen Epoche der Schweizer Geschichte, nämlich im Zweiten Weltkrieg hat die Schweiz krisenfestigkeit bewiesen, als sie sich einer Versorgungskrise gegenübersah. Lebensmittel waren knapp und die Importe wurden weniger, sodass sich der damalige Bundesrat der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, der heutigen SVP – Friedrich Traugott Wahlen – aus dem bernischen Mirchel gezwungen sah, eine Anbauschlacht auszurufen.

Viele von uns erinnern sich sicher noch gut an den sogenannten Wahlenplan aus dem Geschichtsunterricht. Das Ziel des Plans war, die Eigenproduktion zu erhöhen, um die Auslandsabhängigkeit zu reduzieren. Selbstversorgung stand hoch im Kurs und unsere Vorfahren haben innert weniger Jahren die Ackerflächen in der Schweiz verdoppelt. Dabei entstanden einprägsame Bilder wie der Kartoffelanbau vor dem Bundeshaus oder die umgepflügten Fussballfelder. Dank dieses gemeinsamen Einsatzes brauchte die Schweiz als einziges Land in Europa Kartoffeln, Gemüse und Früchte nie zu rationieren.

Geschafft hat man dies, indem man das Gemeinwohl vor das Eigenwohl stellte. Alle gaben etwas von ihrem und trugen damit dazu bei, dass allen geholfen war. Man stand zusammen und stellte sich der Krise als Gemeinschaft, Schulter an Schulter.

Schnell eine Frage in die Runde: Habt Ihr noch Kaffee? Brot und Rösti? Verköstigt Euch nur und geniesst. Und esst ja alles auf, wir wollen ja kein Foodwaste. Wobei, das mit dem Aufessen ist ja so eine Sache: Seit Jahrzehnten erklären Mütter und Väter ihren Kindern: «Esst den Teller leer, sonst scheint morgen die Sonne nicht!» Und was haben wir jetzt davon? Die Klimaerwärmung.

Wie viele Sommer in den letzten Jahren hat auch der heurige erneut Klimarekorde gebrochen. Wir kennen die Schlagzeilen alle! Aber trotzdem erhält die Empörung über die Klimakleber mehr Aufmerksamkeit als die Veränderungen von unserem Planeten, unserer Heimat.

Ich glaube nicht, dass sich die Pioniere von 1848 oder Menschen zur Zeit des Wahlenplans auf die Strasse geklebt hätten. Aber sie hätten sich sicher auch nicht um die kommenden Herausforderungen foutiert. Sie hätten sich gefragt: Wie kann die Schweiz sich wappnen gegen Hitzewellen und Trockenperioden, und welche Pioniertaten sind nötig, um möglichst rasch die Energiewende zu schaffen und CO2-neutral zu werden.

Wenn wir uns auf Spiez beziehen: Könnten wir den Weg einschlagen, wie es Muttenz – eine Basler Gemeinde, etwa gleich gross wie die unsrige – gemacht hat? Die Muttenzner Bevölkerung hat diesen Frühling in einer Volksabstimmung sich dazu entschlossen, ein 135 Meter hohes Windrad zu bauen. Eine Windkraftanlage, die Strom für 800 Haushalte liefern wird. Wäre das vielleicht etwas für die Spiezer Bucht? Ich denke nicht. Oder wie wäre es mit schwimmenden Solarpanels auf dem Thunersee?

Oder packen wir doch einfach das naheliegendste an: Auch in Spiez sind erst 10 % der geeigneten Dachflächen für Solarenergie genutzt. Und dies, obwohl wir bei uns in dem Sektor viel Knowhow haben: Ich erinnere nur an die seit 1999 bestehende Genossenschaft SpiezSolar, die zahlreichen Elektrounternehmungen, die PV-Anlagen montieren können, oder an die Energiewendegenossenschaft, die im Selbstbauprinzip zu günstigen Preisen Solaranlagen baut. Das Selbstbauprinzip funktioniert so, dass man zusammen mit Helfern und einem Profi die Anlage erstellt. Die Stunden, die man so von den Helfern erhalten hat, arbeitet man dann auf anderen Projekten ab. Somit ist die Arbeit gratis. Man hilft einander, es entsteht Gemeinsinn. Traugott Wahlen hätte seine liebe Freude daran.

Weniger sinnvoll finde ich, wenn wir für die Energiewende in einer ungestümen Anbauschlacht neue Staumauern hochziehen und auf Grosssolarprojekte in den Alpen setzen. Oder wenn wir beim Flugplatz Belpmoos eine der grössten Trockenwiesen des Mittellands für eine Solaranlage opfern.

Sollten wir nicht zuallererst alle geeigneten Dächer mit Solarpanels auszurüsten? All die Landis und Lidls mit ihren grossen Parkplätzen? Alle Gewerbeflächen und Autobahnränder bevor wir die schönen Landschaften zerstören? Also eine koordinierte Solaroffensive statt einer sinnlosen Anbauschlacht?

Ja, für die Energiewende brauchen wir schnell, viel, billigen und erneuerbaren Strom! Die Energiewende ist ein Projekt vielleicht noch grösser und komplexer als der Bau des Eisenbahnnetzes. Dazu brauchen wir Pioniere!

Dass wir viel erreichen können, wenn wir gemeinsam und ausdauernd auf ein Ziel hinarbeiten, und nicht die Unterschiede zwischen uns betonen, sondern das Gemeinsame – das haben wir Schweizerinnen und Schweizer in der Geschichte schon mehrfach bewiesen. Es sind die beiden Hondricher Brüder, die den Pazifik mit dem Ruderboot überquert haben und es sind die Spiezer Gewerbetreibenden, die sich für tolle Anlässe zusammengeschlossen haben, oder die erfolgreiche Frauenfussballnati, die mir zeigen, dass wir bei Herausforderungen zusammen anpacken müssen.

Ich bin darum überzeugt, dass es uns nichts bringt, die Krisen, die wir zu bewältigen haben, auszublenden und auf die hässig zu sein, die uns immer wieder an die Krisen erinnern. Sie sollten uns Ansporn sein, an unsere Gründungszeit und Vorfahren zu erinnern und uns zu fragen, wie kann ich mich dafür einsetzen, dass wir die richtigen Weichen für die Zukunft stellen.

Geniessen wir die Zeit hier in der schönen Spiezer Bucht. Doch wenden wir nicht den Blick ab von den Krisen, die da kommen, sondern stehen wir zusammen, gehen gemeinsam vorwärts und suchen pionierhafte Lösungen für die Schweiz, wie die Gründung des Schweizer Bundesstaats 1848, die Modell für Europa und die Welt sein können.

In diesem Sinne, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Anwesende wünsche ich Ihnen von Herzen einen gefreuten 1. August.