Einbau der Umar-Unit in Dübendorf im zweiten Obergeschoss des Nest.
Die Bauwirtschaft soll nachhaltiger werden
Noch ist das Gebäude, bei dem sämtliche Materialien wiederverwertet, rezykliert oder kompostiert werden können, eine Zukunftsvision. Doch an der Empa werden bereits Materialien, Prozesse und Baukonzepte für eine nachhaltige Bauwirtschaft getestet.
Gunther Willinger
Baumaterialien wie Kiese und Sande werden auch in der Schweiz knapp. Der gängige Betonbau mit Material direkt aus der Natur ist damit nicht mehr zukunftsfähig. «Wir brauchen einen Wandel in der Bauindustrie weg von der Wegwerfmentalität hin zu einem geschlossenen Ressourcenkreislauf», fordert deshalb Felix Heisel, Architekt im Forschungsteam von Dirk Hebel am Lehrstuhl für nachhaltiges Bauen des Karlsruher Instituts für Technologie. Weiterverwendung und Recycling sollen die gebaute Umwelt zum Materiallager der Zukunft machen.
Die Innovation steckt in den Details
Jahrzehntelang eingeschliffene Abläufe in der Planung und Umsetzung von Bauvorhaben sind jedoch nur schwer zu ändern. Innovationen, die im Forschungsmassstab gut funktionieren, gelangen oft nur langsam oder erst gar nicht in die Praxis. Diese Lücke zwischen Labor und Markt will die Empa mit dem «Nest» schliessen – einem Gebäude, das es Architekten, Ingenieuren und Bauindustrie ermöglicht, die eigenen Entwicklungen ohne Risiko, jedoch unter realistischen Bedingungen und bei voller Funktionalität zu testen.
Wie in einem riesigen Lagerregal bieten die Betonplattformen des Nest Platz für 12 bis 15 sogenannte Units – Wohneinheiten mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten und jeweils eigener Aussenfassade. Die in Stuttgart und Karlsruhe konzipierte Unit «Urban Mining and Recycling», kurz Umar, ist der jüngste Neuzugang. Sie wird im kommenden Februar offiziell eröffnet. Während von aussen die bunte Fenstereinrahmung aus rezykliertem Kupfer auffällt, ist das Umar im Inneren eine gewöhnliche Dreizimmerwohnung – aber nur auf den ersten Blick. Die Innovation steckt im Detail: Das Umar besteht ausschliesslich aus rezyklierbaren und kompostierbaren Materialien. Es gibt dort Backsteine aus Bauschutt und Wände aus Filz, Lehm, Brauchglas oder Tetrapak-Schnitzeln. Statt Styropor finden sich Dämmplatten aus Pilzmyzel und Sägespänen oder Jeansfasern.
Es gehe jedoch nicht nur um die Materialien an sich, sondern vor allem auch um die Verbindungstechnik, sagt Heisel. Wo sonst mit PU-Schaum gefüllt, mit Silikon abgedichtet oder chemisch verklebt wird, mussten die Architekten und Ingenieure neue Lösungen erfinden. Denn «wenn wir biologische und technische Kreisläufe vermischen, produzieren wir in den meisten Fällen Sondermüll», so Heisel. Wer etwa Holzschaum mit einer Aluminiumplatte dauerhaft verklebt, kann später weder den Holzschaum kompostieren noch die Aluminiumplatte ohne Qualitätsverluste wieder einschmelzen.
Klemmen statt kleben
Wie aber baut man eine Backsteinmauer ohne Mörtel? Und wie befestigt man, ohne Kleber, aber luftdicht, eine Folie? Es sind Antworten auf Fragen wie diese, die im Umar in geballter Form zu besichtigen sind. So entwickelte die niederländische Firma Stonecycling eine mörtelfreie Mauertechnik, bei der die Backsteine Lego-artig ineinandergreifen und mit Spanngurten fixiert werden. Dadurch können Steine jederzeit und ohne grossen Aufwand ausgetauscht oder ganze Wände ab- und an anderer Stelle neu aufgebaut werden. Das Ständerwerk wiederum fertigte die österreichische Zimmerei Kaufmann unter minimalem Einsatz von Bohrungen und Schrauben aus Vollholz. So können grosse Holzteile später anderswo weiterverwendet werden.
Die wasserführenden Kupferrohre der Heiz-Kühl-Decke wurden nicht wie üblich vollflächig mit den Aluplatten der Decke verklebt, sondern geschraubt und geklemmt. Auch die Dampfbremse, eine Kunststofffolie, die zum Schutz vor Kondenswasserbildung in der Dämmung normalerweise mit einem starken Klebeband luftdicht verklebt wird, stellte hohe Anforderungen an den Erfindungsreichtum der Ingenieure. Eine funktionierende Lösung fanden sie durch geschicktes Überlappen und Falten einer recyclingfähigen Folie.
In den Nassbereichen Küche und Bad dichten Schraub-, Klemm- und Steckverbindungen die Fugen ab. Dazu werden grossformatige Platten aus rezykliertem Brauchglas mit einer Metallhalterung gegen Trockendichtungen gepresst.
Oftmals lassen sich schon mit sehr einfachen Mitteln Ressourcen sparen. Etwa bei den Dielen der Holzböden, deren Breite im Umar zwischen 6 und 30 Zentimetern variiert. Die Variation ermöglicht es, den Baumstamm optimal zu verwerten. Das sei nicht nur ressourcenschonend, sondern auch ein Gewinn für die Ästhetik, findet Heisel.
Daneben kommen innovative Geschäftsmodelle zum Einsatz, die bereits heute für jedermann verfügbar sind. Ein Beispiel hierfür sind die rezyklierbaren Teppichfliesen, die der Hersteller Desso nach der vorgesehenen Nutzungsdauer wieder zurücknimmt. Die Firma verkauft das Material also nicht, sondern vermietet es nur. Nach der Rücknahme werden die verwendeten Synthetikgarne eingeschmolzen, pelletiert und neu versponnen.
Die Türklinken für das Umar liefert die Brüsseler Künstlerinitiative Rotor, die sich für die Weiterverwertung von Teilen und Materialien aus abbruchreifen Gebäuden engagiert. Rotor analysiert Stoffkreisläufe und entwickelt Konzepte gegen die Wegwerfmentalität im Bauwesen. Die edlen Bronzeklinken etwa stammen aus einem ehemaligen Brüsseler Bankgebäude. Auch die Weiterverwertung von Ständerwerk, Möbeln und Lichtschaltern ist bereits vorab mit den Herstellern vereinbart.
Rohstoffgewinnung in der Stadt
So werden Gebäude zu Materiallagern, Städte zu Minen. Wertvolle Rohstoffe können nach ihrer Nutzung in der Stadt «abgebaut» werden. Das funktioniere jedoch nur, wenn die Informationen darüber, welches Material wo, wie und wann verbaut worden sei, auch noch in 30, 50 oder 200 Jahren abrufbar seien, sagt Frank Heinlein von der Firmengruppe Werner Sobek. Diese zeichnet gemeinsam mit Dirk Hebel und Felix Heisel für die Konzeption des Umar verantwortlich. Aus dem Gedanken der rezyklierbaren Baustoffe ist deshalb die Idee eines «4-D-Katasters» entstanden – einer Stelle, die entsprechende Informationen einfordert, verwahrt und langfristig zugänglich macht.
Heinlein hofft, dass die Nachhaltigkeit von Baumaterialien mit dem Umar ins öffentliche Bewusstsein rückt. Es werde viel über Energie und CO2-Emissionen gesprochen, dies aber meist nur bezüglich des laufenden Betriebs. Die Energie, die beim Abbau der Rohstoffe, bei der Verarbeitung, beim Transport, beim Bauen und auch beim Rückbau verbraucht werde, werde meist gar nicht betrachtet. Das Umar soll hierzu Anstoss und Inspiration zugleich sein.
Gegen die Wegwerfmentalität
Das Umar wird in den kommenden fünf bis sieben Jahren von zwei Studenten bewohnt werden. Sie müssen sich damit arrangieren, ihr innovatives Heim mit bis zu 1000 Besuchern pro Monat zu teilen. «Die finden das aber supercool», berichtet Enrico Marchesi, Innovationsmanager an der Empa, von den Erfahrungen mit der Studenten-WG in der Vision-Wood-Unit. Und die Erfahrungsberichte der Studenten werden später für alle Beteiligten wertvoll sein.